Julsupervision

Jul ist noch nicht vorbei. Passend zur der wilden Jagd der Raunächte ist mir eine kleine Erleuchtung gekommen. Charles Dickens ist der Erfinder der Supervision!


Ich fülle meine vielen Autofahrten mit einer Reihe von Hörbüchern. Die stürmischen Jultage über war „Eine Weihnachtsgeschichte“ von Charles Dickes mein audibler Begleiter.

 

Auch wenn meine Interpretation nicht sehr supervisorisch ist, sind alle Elemente der Reflexion. Der Suche nach dem Kern, der alternativen Handlungen und des Ausprobierens neuer Verhaltensweisen in dieser Geschichte vorhanden.

 

Marley

„Herr Scrooge, frohe Weihnachten. Mein Name ist Christian Knoll. Setzen sie sich doch bitte.“ Der Supervisor zeigt in dem, in ruhigen Farben gehaltenem, Zimmer auf zwei bequeme Sessel, zwischen denen ein kleines Tischchen steht.

„Pah“, sagte Scrooge, „dummes Zeug!“ Missgünstig begutachte Herr Ebeniza Scrooge den Sessel und lies sich mürrisch auf ihm nieder. Mürrisch beschreibt seine Erscheinung sehr gut.

„Aha“, antwortete der Supervisor, nach dem er sich auf dem zweiten niedergelassen hat und die Wassergläser ohne zu fragen gefüllt hatte, „Weihnachten dummes Zeug, Herr Scrooge? Interessant. Wie kommt es das Sie Weihnachten nicht mögen?“

„Es ist mein Ernst“, sagte Scrooge. „Fröhliche Weihnachten? Was für ein Recht haben sie, fröhlich zu sein? Sie müssen sich die Sorgen anderer Leute anhören!“

„Nun“, antwortete der Supervisor heiter, „was für ein Recht haben Sie, grämlich zu sein? Was für einen Grund, mürrisch zu sein? Sie müssen sich doch nicht die Sorgen anderer Leute anhören.“

Menschen wie sie Herr Scrooge sind tatsächlich das, was, meine Profession schwierig macht. Ganz deutlich spürt der Supervisor in sich einen Fluchtinstinkt. Nicht in der Nähe von Herrn Scrooge zu sein, würde den Tag deutlich beschwingter werden lassen.

Scrooge, der im Augenblick keine bessere Antwort darauf bereithatte, sagte noch einmal „Pah!“ und brummte hinterher „Dummes Zeug!“

„Nun Herr Scrooge, ich freue mich jedenfalls, dass Sie hier sind. Auch wenn ich spüre, wie sehr sie der Gedanke an die Weihnachtszeit aufwühlt.“

„Was soll ich anderes sein“, antwortete der Supervisand, „wenn ich in einer Welt voll solcher Narren lebe? Fröhliche Weihnachten! Der Henker hole die fröhlichen Weihnachten! Was ist Weihnachten anderes, als eine Zeit, in der du Rechnungen bezahlen sollst, ohne Geld zu haben. Eine Zeit, in der du dich um ein Jahr älter und nicht um eine Stunde reicher findest. Eine Zeit, in der du deine Bücher abschließest und in jedem Posten durch ein volles Dutzend von Monaten ein Defizit siehst? Wenn es nach mir ginge“, setzte Scrooge heftig hinzu, „so müsste jeder Narr, der mit seinem ›Fröhliche Weihnachten‹ herumläuft, mit seinem eigenen Pudding gekocht und mit einem Stechpalmenzweig im Herzen begraben werden.“

Der Supervisor atmete durch. Mehrmals. Und schwieg. Nun, das sind deutliche Worte. Lassen sie uns doch zusammen einmal schauen, wie sie zu dieser Einschätzung kommen. Ich persönlich mag die lichte Zeit im Dunkeln, in der die Familie beisammen ist. Ich weiß gewiss, dass ich Jul immer als eine gute Zeit betrachtet habe. Eine liebe Zeit, vielleicht die einzige Zeit, die ich in dem ganzen langen Jahreskalender kenne, da die Menschen einträchtig ihre verschlossenen Herzen öffnen. Eine Zeit, in der sie die andern Menschen ansehen, als wären sie wirklich Reisegefährten nach dem Grab und nicht eine ganz andere Art von Geschöpfen, die einen ganz andern Weg gehen. Und daher glaube ich doch, es hat mir Gutes getan, und es wird mir Gutes tun. Was löst es bei Ihnen aus, wenn ich diese Sicht darstelle?“

„Naja, dann kann ich ja gehen. Sie werden eh nicht verstehen. Guten Abend“, grummelte Herr Scrooge und machte sich stöhnend daran, sich zu erheben. Den langen Mantel hatte er eh nicht ausgezogen.

„Wieso meinen Sie das?“

„Guten Abend!“, sagte der Herr über deutlich.

„Herr Scrooge, nicht ich habe um diesen Termin gebeten, sondern Sie. Sie haben mich kontaktiert. Ich bin hier. Es ist doch egal, wer von uns was von Weihnachten hält. Ich bin hier. Die Tür ist zu. Sie können reden und ich höre zu. Ich werde Fragen stellen, und wenn sie etwas mit dieser Hilfe anfangen können, die Ihre Gedanken sortieren, dann ist das doch gut für Sie und wenn nicht, dann können Sie immer noch jederzeit gehen. Was sagen sie dazu?“

Er zögerte. Dann ließ Herr Scrooge wieder brummelnd nieder.

„Ich träume.“ Sagte Herr Scrooge nach langem Schweigen.

„Wovon träumen Sie?“

„Von meinem ehemaligen Kompagnon, Marley. Dummes Geschwätz. Er sagte ich solle mein Leben ändern. Denn von jedem Menschen wird verlangt, dass seine Seele unter seinen Mitmenschen wandle, in die Ferne und in die Nähe. Und wenn die Seele dies während des Lebens nicht tut, so ist sie verdammt, es nach dem Tode zu tun. Man ist verdammt, durch die Welt zu wandern und zu sehen, was man nicht teilen kann, was man aber auf Erden hätte teilen können und zu seinem Glück anwenden sollen.“

„Und was bedeutet dieser Traum für Sie?“

„Nichts! Es sind nur Reflexionen unserer Sinneseindrücke und denen kann man nicht trauen. Denn die geringste Kleinigkeit stört sie“, entgegnete Scrooge. „Eine kleine Unpässlichkeit des Magens macht sie zu Lügnern. Der Traum könnte ein unverdautes Stück Rindfleisch, ein Käserindchen, ein Stückchen schlechter Kartoffeln sein. Was auch immer es war, es hatte mehr vom Unterleib, als von der Unterwelt.“

„Aber sie haben es mir er zählt. Warum?“

„Marley war immer ein guter Geschäftsmann“, stotterte Scrooge zitternd. Ob er jetzt anfing, das Schicksal des geträumten Geistes auf sich selbst zu beziehen? Dachte der Supervisor.

Scrooge stöhnte. „Die Geschäfte laufen gut immer. Die Kosten haben ich soweit gesenkt, wie ich nur konnte. In den letzten Tarifverhandlungen habe ich meine Mitarbeiter bis an den Mindestlohn drücken können. Und doch …“

„Ja?“

„Ich weiß es nicht. Leer. Leer wäre das Wort.“ Für einen Moment wurde Ebeniza weich und erhärtete sogleich wieder „Mehr habe ich nicht zu sagen“.

„Ich verstehe. Dort wo sie sind, ist alles so bestellt, wie es ein Geschäftsmann sich nur wünschen kann und doch sind sie unzufrieden.“ Diesmal ist der der Supervisor, der schweigt.

„Herr Scrooge, sie haben mir die Erlaubnis gegeben, Ihnen Fragen zu stellen und einwenig durch Ihre eigenen Gedanken zu leiten. Ich möchte an einem ganz anderen Punkt beginnen. Erzählen Sie doch etwas mehr über sich. Woher sie kommen. Wir haben den 24. Dezember. Lassen sie uns einmal zurückgehen. Zurück bis in Ihre Kindheit. Woran erinnern sie sich?“

 

Der erste Geist

Scrooge erinnert sich. An eine Landstraße, rings von Feldern umgeben. Es war jetzt ein klarer, kalter Wintertag und der Boden mit weißem reinem Schnee bedeckt.

„Gütiger Himmel!“, rief Scrooge, die Hände faltend, als in ihm die Bilder seiner Jugend aufstiegen.

„Ihre Lippen zittern“, sagte der Supervisor, „Und, was glänzt auf ihrer Wange? Lösen die Erinnerungen Gefühle aus? Erinnern sie sich gut an diesen Weg?

„Ob ich mich seiner erinnere?“, rief Scrooge mit Innigkeit. „Blindlings könnte ich ihn gehen!“

Sie schritten im Gedanken den Weg entlang. Scrooge erkannte jedes Tor, jeden Pfahl, jeden Baum wieder, bis ein kleiner Marktflecken in der Ferne mit seiner Kirche, seiner Brücke und dem hellen Fluss erschien. Jetzt kamen einige Knaben, auf zottigen Ponys reitend, auf sie zu, die anderen Knaben in ländlichen Wagen laut zuriefen. Alle waren gar fröhlich und laut, bis die weiten Felder so voll heiterer Musik waren, dass die kalte, sonnige Luft lachte, sie zu hören.

Scrooge erinnerte sich an seine alte Schule. An die Kälte im eigenen Zuhause. Wie ihm die Enttäuschungen, die ihm sein Vater beibrachte, immer Härte werden ließ. Wie seinem Zuhause und mit ihm dem Weihnachtsfest den Rücken kehrte. Wie die Zahlen, das Büffeln die Leere füllten und ihn die Noten mit stolz erfüllten.

„Und ihre Lehrzeit? Wie haben Sie die verbracht?“

Unvermittelt beginnt Scrooge zulachen und zu prusten. Für einen Moment fallen die Härte und die Jahre als nüchterner Geschäftsmann von ihm ab. Grinsend beschreibt er einen alten Herrn in einer Stutzperücke, der hinter einem so hohen Pult saß. Scrooge beschreibt voller Lust die Firmenfeier in seinem Lehrbetrieb.

„Feierabend heute. Weihnachten, Dick! Weihnachten Ebenezer! Macht die Läden zu, schnell! Ehe einer Jack Robinson sagen kann.“ So rief der alte Fezziwig, munter die Hände zusammenschlagend. Fast kann man den alten Lehrherren vor sich sehen, wie Scrooge ihn nachahmt. Und nun lässt Scrooge den Tanz und das leckere Essen vor seinem inneren Augen aufleuchten.

„Also gab es doch gute Weihnachten für dich und einen warmen Kern in dir.“ Denkt der Supervisor ohne etwas zu sagen.

„Dort habe ich sie auch kennengelernt“ Scrooge Miene verfinstert sich.

„Ja?“, sagt der Supervisor.

Nur das Gesicht von Scrooge erzählt die Geschichte, die seine Lippen niemals erzählen würde. Von erster wahrer Liebe, vom Erkalten, von Verlassen.

Kurz und knapp sagt er nur: „Naja. Hätte auch nicht viel Mitgift mitgebracht.“ Wieder schweigen. Gedanken, die wandern.

„Woran denken sie gerade? Wo sind sie?“ fragt der Coach leise.

„Sie ist bestimmt verheiratet. Töchter ich bin mir sicher, dass sie Töchter hat. Genauso schön wie sie …“ Wieder laufen stille Tränen.

 

Der zweite Geist

„Gut Herr Scrooge. Eine Frage. Auf mich warten heute Abend 14 freie Tage mit meiner Familie. Die Zeit beginnt bei mir unter dem Weihnachtsbaum. Ich weiß, was sie von Weihnachten halten. Ich nehme an, sie werden es nicht feiern. Aber ich würde gerne wissen, wie Ihre Familie Weihnachten feiert. Was meinen Sie? Sie haben doch eine Familie?“

„Einen Neffen habe ich. Meine Schwester ist … Nun … ich habe einen Neffen. Wenn jemand durch einen sehr unwahrscheinlichen Zufall einen Menschen weiß, der glücklicher Lachen kann, als mein Neffe, so kann ich nur sagen, ich möchte ihn auch kennenlernen. Stellt mich ihm vor, und ich werde mit ihm Freundschaft pflegen.“ Scrooge grinst.

 

„Wie feiert er?“

Scrooge zählt auf: „Stechpalmen, Misteln, rote Beeren, Efeu, Truthähne, Gänse, Spanferkel, Braten, Würste, Austern, Pasteten, Puddings, Früchte und Punsch. Alles, was dazugehört.“ Wieder füllt schweigen den Raum.

„Sie hatten mich eingeladen wissen Sie. Er lädt mich immer ein. Auch wenn ich immer absage. Spielen werden sie und lachen. Und Tanzen.“

 

„Warum sind sie nicht bei Ihnen?“

 

„Ja, warum nicht?“, Scrooge wird immer schweigsamer.

 

„Lassen sie uns weiter schauen. Sie haben von Ihren Mitarbeitern bereits gesprochen. Gibt es dort einen Mitarbeiter, mit dem Sie viel zu tun haben?“

 

„Cratchit, Bob Crachit, mein Buchhalter. Mehr Kinder als Haare auf dem Kopf. Keine Ahnung, wie er sich das bei dem Gehalt leisten kann, dass ich ihm zahle.“ Scrooge sinniert, „eines ist behindert glaube ich …“

 

„Was meinen Sie, was er tut?“

 

„Nun ja, ich habe ihm gesagt, dass er bis 18:00 Uhr im Büro bleiben muss, aber inzwischen wird er auf dem Weg zu seiner Familie sein. Ganz, er erzählte, dass sie Gans essen. Ich sagte ihm nur kapp, das er wohl immer noch zu viel verdiene. Würstchen und Kartoffelsalat wären für einen wie ihn immer noch gut genug.“ Scrooge schämte sich.

 

„Was wissen sie über das Kind von Herrn Crachit?“

 

„Nicht viel. Es bräuchte eine OP. In der Schweiz. Die Kasse zahlt nicht. Ich habe ihm wohl nicht richtig zugehört.“ Scrooge wird immer kleiner in seinem Sessel. Er blickt aus dem Fenster.

Die ersten Flöckchen beginnen, vom Himmel herunter zu schneien.

 

Der dritte Geist

„Gut Herr Scrooge, verlassen wir das hier und jetzt. Springen wir in die Zukunft. Sagen wir 30 Jahre in die Zukunft. Was ist dann?“

Scrooge rümpft die Nase. Was soll da sein. Dann bin ich weit über 90 Jahre alt oder schon Tod!“

 

„Ja, das ist möglich. Lassen sie uns einmal bei der Zeiten Möglichkeit verweilen. Sie werden sterben. Am Julabend in 30 Jahren.“

 

„Was soll das? Sind sie ein Hellseher? Ich verbitte mir das!“

 

„Es ist nur ein Gedankenspiel Herr Scrooge. Ihre Reise ist zu Ende. Wer begleitet sie auf Ihrem letzten Weg?“

 

Scrooge schweigt. Denkt nach. „Mein Neffe vielleicht. Unterumständen. Wenn er es nicht müde geworden ist, auf mich zuzugehen.“

 

„Wer noch?“, fragt der Supervisor.

 

Scrooge beantwortet die Frage nicht und bleibt stumm und in sich gekehrt.

 

„Wenn sie von Ihrem heutigem Verhalten ausgehen, was meinen Sie, würde in der Grabrede über sie gesagt werden.“

 

Scrooge stockt. Zuckt mit den Schultern. „Er war ein guter und nüchterner Geschäftsmann. Das könnte man sagen.“

Fast hart und doch zugewandt setzt der Supervisor nach: „Was bleibt von Ihnen, wenn sie einmal nicht mehr sind, Herr Scrooge?“

 

Das ist zu viel. Herr Scrooge braust auf. Springt aus dem Sessel wie ein junger Mann. „Was bleibt denn von Ihnen! Was bleibt denn von uns allen!“

 

Nur kurz erschrickt der Supervisor. „Wenn ich mich weiter redlich bemühe, bleibt vielleicht die Liebe meiner Söhne. Naja und ich hoffe mit dem was ich tute dem ein oder anderen meiner Weggefährten geholfen zu haben.“

 

Scrooge starrt den Supervisor an. Zeigt energisch mit dem Finger in Richtung seines Gesprächspartners. Er setzt an, etwas zu sagen. Öffnet den Mund und schließt ihn dann doch wieder. Ohne einen weiteren Satz verlässt er den Raum.

 

Der Supervisor ruft ihm noch nach: „Sie können alles, was sie wollen!“

 

Er bleibt allein zurück. „Was er wohl aus dem macht, was er heute sich selbst erzählt hat?“


 

Das Ende

Scrooge wachte auf. Der Termin gestern hatte ihm mehr als nur zugesetzt.

„Ich will in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft leben“, wiederholte Scrooge, als er aus dem Bett kletterte. „Oh, Jacob Marley! Der Himmel sei dafür gepriesen und die Weihnachtszeit!“

Er war von seinen guten Vorsätzen so durchflammt und außer sich, dass seine bebende Stimme auf seinen Ruf kaum antworten wollte.

„Ich weiß nicht, was ich tue“, rief Scrooge in einem Atem weinend und lachend. – „Ich bin leicht wie eine Feder, selig wie ein Engel, vergnügt wie ein Schulknabe, schwindlig wie ein Trunkener. Fröhliche Weihnachten allen Menschen! Ein glückliches Neujahr der ganzen Welt! Hallo! Hussa! Hurra!“

Er war in das Wohnzimmer gesprungen und blieb jetzt drin ganz außer Atem stehen.

Für einen Mann, der so lange Jahre aus der Übung war, musste man es wirklich ein vortreffliches Lachen nennen, ein herrliches Lachen. Es war der Vater einer langen, langen Reihe herrlicher Lachsalven!

Er lief zum Fenster, öffnete es und steckte den Kopf hinaus. Kein Nebel: ein klarer, lustig-heller, frischfroher Morgen, eine Kälte, die dem Blut einen Tanz vorpfiff, goldenes Sonnenlicht, ein himmlischer Himmel, lieblich-erquickende Luft. O wie herrlich, wie herrlich!

„Was ist denn heute für ein Tag?“, rief Scrooge einem Jungen in Sonntagskleidern zu, der unterm Fenster stand.

„Wie?“, fragte der Knabe mit der allergrößten Verwunderung.

„Was ist heut' für ein Tag, mein Junge?“, fragte Scrooge.

„Heute?“, antwortete der Knabe. „Nun, der erste Jultag.“

„Weihnachten“, sagte Scrooge zu sich selber. „Ich habe ihn also nicht versäumt. Sie können alles, was sie wollen. Natürlich, natürlich. – Heda, mein Junge!“

„Was denn!“, antwortete der Knabe.

„Kennst du des Geflügelhändlers Laden in der zweit nächsten Straße an der Ecke?“, fragte Scrooge.

„I, warum denn nicht?“, antwortete der Junge.

„Ein gescheiter Junge“, nickte Scrooge. „Ein merkwürdiger Junge! Weißt du nicht, ob der Preistruthahn, der dort hing, verkauft ist? Nicht der kleine Preistruthahn, sondern der große.“

„Was, der so groß ist wie ich?“ entgegnete der Junge.

„Was für ein lieber Junge!“ lächelte Scrooge. „Es ist eine Freude, mit ihm zu sprechen. Freilich wohl, mein Prachtjunge.“

„Der hängt noch dort“, antwortete der Junge.

„Ists wahr?“, sagte Scrooge. „Geh hin und kaufe ihn und sag, sie sollen ihn hierher bringen, dass ich ihnen die Adresse geben kann, wohin sie ihn tragen sollen. Komm mit dem Träger wieder her, und ich gebe dir einen Shilling. Kommst du rascher als in fünf Minuten zurück, bekommst du fünf Euro.“

Der Bengel verschwand wie ein Blitz.

„Ich will ihn Bob Cratchit schicken“, flüsterte Scrooge, sich die Hände reibend und fast vor Lachen platzend.

Als er die Adresse schrieb, zitterte seine Hand, aber er schrieb so gut es ging und stieg die Treppe hinab, um die Haustür zu öffnen und den Truthahn zu erwarten.

Das war ein Truthahn! Er hätte nicht mehr lang lebendig auf seinen Füßen stehen können.

„Was, das ist ja fast unmöglich, den nach Gaarden zu tragen!“, sagte Scrooge. „Ihr müsst ein Taxi nehmen.“

Das Lachen, mit dem er dies sagte, und das Lachen, mit dem er den Truthahn bezahlte, und das Lachen, mit dem er den Wagen bezahlte, und das Lachen, mit dem er dem Jungen ein Trinkgeld gab, wurde nur von dem Lachen übertroffen, mit dem er sich atemlos in seinen Stuhl niedersetzte und lachte, bis ihm die Tränen die Backen herunterliefen.

Das Rasieren war keine Kleinigkeit, denn seine Hand zitterte immer noch sehr, und Rasieren verlangt große Aufmerksamkeit, auch wenn man nicht gerade währenddessen tanzt. Aber selbst wenn er sich die Nasenspitze weggeschnitten hätte, würde er ein Stückchen Pflaster darauf geklebt und sich damit zufriedengegeben haben.

Er zog seine besten Kleider an und trat endlich auf die Straße. Die Leute strömten gerade aus ihren Häusern, wie er es gesehen hatte, als er den Geist der diesjährigen Weihnacht begleitete; und mit auf dem Rücken zusammengeschlagenen Händen durch die Straßen gehend, blickte Scrooge jeden mit einem freundlichen Lächeln an. Er sah so unwiderstehlich freundlich aus, dass drei oder vier lustige Leute zu ihm sagten: „Guten Morgen, Sir, fröhliche Weihnachten!“, und Scrooge sagte oft nachher, dass von allen lieblichen Klängen, die er je gehört, dieser seinem Ohr am lieblichsten geklungen hätte.

Er war nicht weit gegangen, als er denselben stattlichen Herrn auf sich zukommen sah, der am Tage vorher in sein Kontor getreten war, mit den Worten: „Scrooge und Marley, glaube ich.“ Es gab ihm förmlich einen Stich ins Herz, als er dachte, wie ihn wohl der alte Herr beim Vorübergehen ansehen würde; aber er wusste, welchen Weg er zu gehen hatte, und ging ihn.

„Lieber Herr“, rief Scrooge, schneller laufend und den alten Herrn an beiden Händen ergreifend. „Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, Sie hatten gestern einen guten Tag? Es war sehr freundlich von Ihnen. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten, Sir.“

„Mr. Scrooge?“

„Ja“, sagte Scrooge. „So ist mein Name und ich fürchte, er klingt Ihnen nicht sehr angenehm. Erlauben Sie, dass ich Sie um Verzeihung bitte! Und wollen Sie die Güte haben“ hier flüsterte ihm Scrooge etwas ins Ohr.

„Himmel!“, rief der Herr, als ob ihm der Atem ausgeblieben wäre. „Mein lieber Mr. Scrooge, ist das Ihr Ernst?“

„Wenn es Ihnen beliebt“, sagte Scrooge. „Keinen Penny weniger. Es sind viele Rückstände dabei, ich versichere es Ihnen. Wollen Sie die Güte haben?“

„Bester Herr“, sagte der andere, ihm die Hand schüttelnd. „Ich weiß nicht, was ich zu einer solchen Freigebigkeit sagen soll.“

„Ich bitte sie sagen Sie gar nichts dazu“, antwortete Scrooge. „Besuchen Sie mich. – Wollen Sie mich besuchen?“

„Herzlich gern“, rief der alte Herr. Und man sah, es war ihm Ernst mit dieser Versicherung.

„Ich danke Ihnen sehr“, sagte Scrooge. „Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich danke Ihnen tausendmal. Leben Sie recht wohl!“

Er ging durch die Straßen, sah die Leute hin und her laufen, klopfte Kindern die Wange, sprach mit Bettlern, spähte hinab in die Küchen und lugte hinauf zu den Fenstern der Häuser: und er fand, dass ihm alles das Vergnügen bereiten könne. Er hätte es sich nie träumen lassen, dass ihn ein Spaziergang oder sonst etwas so glücklich machen könnte. Nachmittags lenkte er seine Schritte nach der Wohnung seines Neffen.

Er ging wohl ein dutzendmal an der Tür vorüber, ehe er den Mut hatte anzuklopfen. Endlich fasste er sich ein Herz und klopfte.

„Ist dein Herr zu Hause, liebes Kind?“, sagte Scrooge zu dem Mädchen. Ein nettes Mädchen, wahrhaftig!

„Ja, Sir.“

„Wo ist er, liebes Kind?“, sagte Scrooge.

„Er ist in dem Speisezimmer, Sir, mit Madame. Ich will Sie hinaufführen, wenn Sie erlauben.“

„Danke, danke. Er kennt mich“, sagte Scrooge, mit der Hand schon auf der Türklinke. „Ich will gleich eintreten, liebes Kind.“

Er machte die Tür leise auf und steckte den Kopf hinein. Sie betrachteten gerade den Speisetisch (der mit großem Aufwand gedeckt war); denn junge Hausfrauen sind immer sehr bedacht darauf und sehen gern alles in hübschester Ordnung.

„Fred“, rief Scrooge.

Heiliger Himmel, wie seine Nichte erschrak! Scrooge hatte in dem Augenblick vergessen, dass sie mit dem Fußbänkchen in der Ecke gesessen hatte, sonst hätte er es um keinen Preis getan.

„Potztausend!“, rief Fred, „wer kommt da?“

„Ich bin’ s. Dein Onkel Scrooge. Ich komme zum Essen. Willst du mich hereinlassen, Fred?“

Ihn hereinlassen! Es war nur gut, dass er ihm nicht den Arm Abriss. Er war in fünf Minuten wie zu Hause. Nichts konnte herzlicher sein, als die Begrüßung seines Neffen. Und auch seine Nichte empfing ihn nicht minder herzlich. Auch die runde Schwester, als sie kam. Und alle, wie sie nach der Reihe kamen. Wundervolle Gesellschaft, wundervolle Spiele, wundervolle Eintracht, wundervolle Glückseligkeit!

Aber am andern Morgen war Scrooge früh in seinem Kontor. Oh, er war gar früh da. Zuerst dort zu sein und Bob Cratchit beim Zuspätkommen zu erwischen! Das war's, worauf sein Sinn stand. Und es gelang ihm wahrhaftig! Die Uhr schlug neun. Kein Bob. Ein Viertel nach neun. Kein Bob. Er kam volle achtzehn und eine halbe Minute zu spät. Scrooge hatte seine Türe weit offen stehen lassen, damit er ihn in das Verlies eintreten sähe.

Bobs Hut war vom Kopf, ehe er die Tür öffnete, auch der Schal von seinem Hals. Im Nu saß er auf seinem Stuhl und jagte mit der Feder über das Papier, als wollte er versuchen, neun Uhr einzuholen.

„Heda“, rief Scrooge, so gut es ging seine gewohnte Stimme nachahmend. „Was soll das heißen, dass Sie so spät kommen?“

„Es tut mir sehr leid, Sir“, sagte Bob. „Ich habe mich verspätet.“

„So?“, sagte Scrooge. „Ja. Das kommt mir auch so vor. Hier herein, wenn's gefällig ist.“

„Es ist nur einmal im Jahr, Sir“, sagte Bob, aus dem Verlies hereintretend. „Es soll nicht wieder vorkommen. Ich war ein bisschen lustig gestern, Sir.“

„Nun, ich will Ihnen etwas sagen, Freundchen“, sagte Scrooge, „ich kann das nicht länger mit ansehen. Und daher“, fuhr er fort, von seinem Stuhl springend und Bob einen solchen Stoß vor die Brust gebend, dass er wieder in das Verlies zurückstolperte, „und daher will ich Ihr Gehalt erhöhen!“

Bob zitterte und trat dem Lineal etwas näher. Er hatte einen kurzen Gedanken, Scrooge damit eins auf den Kopf zu geben, ihn festzuhalten und die Leute im Hof um Beistand und um eine Zwangsjacke anzurufen.

„Fröhliche Weihnachten, Bob!“, sagte Scrooge mit einem Ernst, der nicht missverstanden werden konnte, indem er ihm auf die Achsel klopfte. „Fröhlichere Weihnachten, Bob, als ich Sie so manches Jahr habe feiern lassen. Ich will Ihr Salär erhöhen und mich bemühen, Ihrer Familie unter die Arme zu greifen. Wir wollen heut' Nachmittag bei einem dampfenden Weihnachtspunsch über Ihre Angelegenheiten sprechen, Bob! Schüren Sie das Feuer an und kaufen Sie eine andere Kohlenschaufel, ehe Sie wieder einen Punkt auf ein i machen, Bob Cratchit!“

Scrooge war besser als sein Wort. Er tat nicht nur alles, was er versprochen hatte, sondern noch mehr, und für den kleinen Sohn von Bob wurde er ein zweiter Vater. Er wurde ein so guter Freund und ein so guter Mensch, wie nur die liebe alte City oder jedes andere liebe alte Städtchen oder Dorf in der lieben alten Welt je einen Freund und Menschen gesehen hat. Einige Leute lachten, als sie ihn so verändert sahen; aber er ließ sie lachen und kümmerte sich wenig darum, denn er war klug genug, zu wissen, dass nichts Gutes in dieser Welt geschehen kann, worüber nicht von vornherein einige Leute lachen müssen: und da er wusste, dass solche Leute doch blind bleiben würden, so dachte er bei sich, es wäre besser, sie legten ihre Gesichter durch Lachen in Falten, als dass sie es auf weniger anziehende Weise täten. Sein eigenes Herz lachte, und damit war er vollauf zufrieden.

Er hatte keinen ferneren Verkehr mit Geistern, Sondern lebte von jetzt an nach dem Grundsatz gänzlicher Enthaltsamkeit; und immer sagte man von ihm, er wisse Weihnachten recht zu feiern, wenn es überhaupt ein Mensch wisse. Möge dies auch in Wahrheit von uns allen gesagt werden können. Und so schließen wir mit den Worten von Bobsohn Tim: „Die Götter segnen jeden von uns.“

 

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